Nachrichten und Informationen aus der Barlachstadt Güstrow

Rede des Bürgermeisters zum Volkstrauertag am 13.11.2022

Zwei Kriege und Deutschlands historische Verantwortung

Sehr geehrte Anwesende,

jedes Jahr in der dunklen Zeit erinnern wir uns am Volkstrauertag der Toten, die durch die Weltkriege und in ihnen den Tod erlitten haben. Diese Kriege wurden von Völkern, genauer: von Staaten und ihren Regierungen gegeneinander geführt. Über viele Jahre hinweg ist aus der Trauer um die Toten und aus ihrer Würdigung immer wieder das Bedürfnis entstanden, ihr Opfer auch dadurch zu ehren, dass man Gründe für die Rechtfertigung ihres Todes vortrug. Damit hat man oft, zwar nicht immer gewollt, auch die Gründe für die Kriege, denen sie zum Opfer gefallen sind, gerechtfertigt.

Damit können wir heute nicht fortfahren, müssen es vielmehr in Zweifel ziehen. Wir müssen uns der herausfordernden Wahrheit stellen, dass wir Leid und Opfer von Menschen wegen ihrer Würde als Menschen ehren, auch wenn sie in einem ungerechten und nicht zu rechtfertigenden Krieg gestorben sind, auch wenn sie aus heutiger Sicht ein sinnloses Opfer gebracht haben. Nur ein Prozent der Deutschen denkt beim Zweiten Weltkrieg an die Ukraine. Eine im Dezember 2021durchgeführte MEMO-Studie zeigte, dass in den Umfragen die Kriegserinnerung nach wie vor westeuropäisch orientiert ist: Fast 75 Prozent nannten Frankreich als Land, das am stärksten mit dem Krieg in Zusammenhang gebracht wird. Bezeichnenderweise wurde Russland mit 36,3 Prozent genannt, und nicht die Sowjetunion (8 Prozent), und bezeichnenderweise nehmen alle anderen Sowjetrepubliken die letzten Listeplätze ein: wie Belarus mit nur 0,1 Prozent.

Zwei Punkte lassen sich daraus ableiten: Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten wird immer noch als „Russlandfeldzug“ verstanden, nicht als Krieg gegen die Sowjetunion. Die Russifizierung des Gegners führt wiederum zu der verzerrten Wahrnehmung der historischen Verantwortung angesichts der Verbrechen, die die Deutschen in der Sowjetunion begangen haben. Die einzig angemessene Folgerung aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs besteht jedoch in der Einsicht, dass Deutschland nicht nur Russland gegenüber die Pflicht zur Übernahme historischer Verantwortung hat, sondern auch und in gleichem Maße gegenüber der Ukraine.

Die deutsche Gesellschaft während der NS-Zeit unterschied kaum nach den ethnischen Zugehörigkeiten der Menschen aus der Sowjetunion und brandmarkte sie alle als „Russen“. Sowohl die Wehrmacht an der Ostfront als auch die lokale Bevölkerung hatte wenig Ahnung vom multinationalen Charakter der Sowjetunion – für die Deutschen war ein „Sowjetbürger“
gleichbedeutend mit einem „Russen“. Bezeichnenderweise mussten sowjetische KZ-Häftlinge in deutschen Lagern den Buchstaben „R“ – für Russland/Russe – auf ihrem Dreieck tragen, wie polnische den Buchstaben „P“. Die überlieferten Lagerzeugnisse, wie zum Beispiel von David Rousset, Viktor Frankl oder Witold Piliecki, nennen ihre Mitgefangenen aus der Sowjetunion „Russen“. In der NS-Ideologie verbanden sich radikaler Antibolschewismus und Antisemitismus mit dem Slawenhass. Auf der Ebene des Alltags nahm ein einfacher Wehrmachtssoldat die Gebiete jenseits der polnischen Grenze als einen „wüsten und leeren“ Raum wahr, der kolonisiert werden musste. Das Interesse am multinationalen Charakter der Gebiete, die die Wehrmacht überfallen hatte, beschränkte sich auf die Unterscheidung Jude – Nicht-Jude: Juden wurden in den meisten Fällen sofort ermordet, während Nicht-Juden vorerst für die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht von der Vernichtung ausgenommen wurden. Dennoch war die Behandlung der so genannten „Ostslawen“ bzw. „Sowjets“ – der Bewohner Russlands, der Ost-Ukraine und Ost-Belarus‘, – im hohen Grad menschenverachtend, denn sie galten allesamt als „sowjetisch verseucht“. Die Russifizierung des Sowjetischen ging in der Nachkriegszeit weiter: Die Wehrmachtsveteranen sprachen von ihrer Zeit „in Russland“, auch wenn sie in Kiew oder in Vitebsk gewesen waren.

Das Jahr 1945 ist in der deutschen Wahrnehmung mit dem Klischee „dann kam der Russe“ verbunden – gemeint nicht im positiven Sinn, sondern bezogen auf Russen als Täter, Plünderer und Vergewaltiger. Auch hier spielt der multinationale Charakter der Roten Armee keine Rolle, und so weiß heute kaum jemand, dass zum Beispiel Auschwitz von einem Muslim – Magomed Tankajev aus Dagestan – befreit wurde. Es war seine Division, die als Erste das Gelände des Vernichtungslagers betrat, ihm folgten die von Russen, Ukrainern und Letten angeführten Regimenter.

Die Gedenkstätten-Aktivisten, die sich in den 1970er Jahren für die Erinnerung an die vergessenen Opfer einsetzten, übernahmen die undifferenzierte Einordnung. Bis heute tragen sowjetische Gräber oftmals den Namen „Russengräber“ oder „Russenfriedhöfe“. Der Vermerk „besetzte Ostgebiete“ als Herkunftsort in den deutschen Arbeitsscheinen wurde nun von Historikerinnen und Historikern genauer spezifiziert. Doch durch die Kluft zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit bleibt in der kollektiven Wahrnehmung bis heute vor allem Russland als Referenz für den Krieg, seine Opfer und Sieger bestehen.

Die erinnerungskulturelle Einengung in Deutschland verbindet sich mit dem allgemeinen Unwissen über das Geschehen an der Ostfront. Wenig bekannt ist, in welchem Ausmaß auch die nicht-jüdische Bevölkerung gelitten hat. In Belarus wurden 1,7 Millionen Menschen umgebracht, von neun Millionen der Vorkriegsbevölkerung. Das ukrainische Dorf Korjukiwka im Gebiet Tschernihiv wurde zum Opfer einer brutalen Vernichtungsaktion und kann als eines der größten verbrannten Dörfer auf dem sowjetischen Gebiet gelten – etwa 6.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, wurden hier von den Einsatzgruppen am 1. und 2. März 1943 mit Maschinengewehren erschossen und verbrannt. In Leningrad verhungerten über eine Million Menschen während der Blockade der Stadt durch die deutsche Wehrmacht. Aber die Zivilbevölkerung hungerte auch in Smolensk, Charkiv, Vitebsk und anderen Orten.

Hitler führte den Krieg nicht gegen Russland und nicht gegen die Ukraine oder Belarus – er führte ihn gegen den Erzfeind: den „jüdischen Bolschewismus“, den er auf das ganze Land projizierte. Spricht man vom Hass und von der Entmenschlichung des Gegners, werden die Parallelen zum heutigen völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine deutlich. Zum Feind kann aus der Sicht Russlands jeder werden, der gegen den Kreml und gegen die russische Besatzung ist, das heißt, auch ukrainische Juden, die man angeblich von ukrainischen „Nazisten“ befreien will.

Für die Menschen in der Ukraine ist es höchst symbolisch, dass es die gleichen Orte sind, die 1941 angegriffen wurden und 2022 erneut angegriffen und bombardiert werden: Kiew, Charkiv, Odessa, Luzk, Zhitomir und Lviv.

Die Erinnerungen an den „schrecklichen Krieg“ 1941 – 1945 werden geweckt und überdeckt von den schrecklichen Geschehnissen der Gegenwart. Die historische Verantwortung Deutschlands besteht darin, nie wieder gleichgültig gegenüber den Opfern von Krieg und Gewalt zu sein.

Deshalb soll der Ukraine unsere uneingeschränkte Solidarität gelten.

Am Volkstrauertag schauen wir zurück auf die Schrecken des Krieges, aber auch voraus auf die Bewahrung von Frieden, Demokratie und Menschenrechten. Wir müssen alles dafür tun, dass die Kriege auf der ganzen Welt beendet werden und durch aktuelle Spannungen keine neuen entstehen, z. B. zwischen Nord- und Südkorea, China und Taiwan, Griechenland und der Türkei …

Für alle Menschen und Länder auf der Welt ist es wichtig, dass wir uns den Krisen der Zeit widmen, und Lösungen finden für

  • - die Energiekrise
  • - den Klimawandel
  • - oder den Hunger und die Armut in der Welt.

Die Menschheit kann sich selbst der ärgste Feind sein, wie in der von Deutschland initiierten Barbarei zwischen 1933 und 1945. Die Menschheit kann aber auch zur Freundschaft mit sich selbst finden, sich mit sich selbst anfreunden.

Vielleicht gibt es auch und gerade jetzt mit den Erfahrungen bei der Bewältigung der Corona-Pandemie dazu eine Riesenchance.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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